Je länger sich ein Nachzügler im Kreuzungsbereich aufhält, desto eher habe er mit einem anfahrenden Querverkehr zu rechnen. Deswegen darf nicht blind auf den Nachzüglervorrang vertraut werden. Nach längerer Verweildauer darf nur dann weitergefahren werden (trotz Nachzüglervorrang), wenn der Fahrzeugfahrer sich tatsächlich vergewissert hat, dass eine Kollision mit dem Querverkehr ausgeschlossen ist.

OLG Hamm 26.08.2016, Az.: 7 U 22/16

Tatbestand

Unfall im Kreuzungsbereich - Autounfall - Nachzüglervorrang vs. Sorgfaltsanforderung - Verkehrsrecht Die Beklagte ist bei grüner Ampel in den Kreuzungsbereich eingefahren, dort aber aufgrund eines Rückstaus der gegenüberliegenden Linksabbiegerspur verkehrsbedingt zum Stehen gekommen. Nachdem sie mit ihrem Fahrzeug im Kreuzungsbereich mindestens 40 Sekunden gestanden hat, fuhr die Beklagte zügig los, als sich zwischen ihrem Fahrzeug und dem herannahenden Klägerfahrzeug eine Lücke auftat. Als die Beklagte das Fahrzeug wieder in Bewegung setzte und die Kreuzung passieren wollte, kam es zu einer Kollision mit dem Klägerfahrzeug. Zu diesem Zeitpunkt zeigte die Lichtzeichenanlage für die Fahrbahn der Beklagten mindestens 23 Sekunden Rot. Die klägerische Fahrzeugspur hatte mindestens 19 Sekunden Grünlicht.

Entscheidungsgründe

Unter Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge ist die Beklagte alleinverantwortlich. Der Kläger trägt kein Mitverschulden. Es müssen keine Haftungsquoten gebildet werden.

Beim streitgegenständlichen Verkehrsunfall handelt es sich zweifelsfrei um einen Unfall beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs im Sinne von §7 Abs. 1 StVG. Höhere Gewalt lag hingegen nicht vor, §7 Abs. 1 StVG. Es konnte nicht festgestellt werden, dass es sich bei dem Unfall für beide Kraftfahrzeugführer um ein unabwendbares Ereignis im Sinne von §17 Abs. 3 StVG handelt. Unabwendbar ist ein Ereignis, dass auch bei der äußerst möglichen Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (vgl. BGH, NJW 2005, 305). Abzustellen ist insoweit auf das Verhalten eines sogenannten Idealfahrers. Dabei kommt es nicht nur darauf an, wie ein Idealfahrer unter Anwendung der äußerst möglichen Sorgfalt in der konkreten Gefahrensituation reagiert hätte, sondern auch darauf, ob ein Idealfahrer unter Anwendung der äußerst möglichen Sorgfalt überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre (vgl. BGH, NJW 1992, 1684). Der streitgegenständliche Unfall hätte durch beide Parteien durch eine der Situation angepassten Fahrweise verhindert werden können.

Die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang hängen nach §17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die gebotene Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge führt vorliegend zu einer Alleinverantwortlichkeit der Beklagten.

Die Beklagte hat den Unfall dadurch verursacht, dass sie als sog. „echter Nachzügler“ den Kreuzungsbereich geräumt hat, ohne sich vorher zu vergewissern, dass eine Kollision mit anderen Verkehrsteilnehmern ausgeschlossen war. Daher ist der Beklagten ein erheblicher schuldhafter Verstoß gegen die gemäß §1 Abs. 2 StVO obliegende Sorgfaltspflicht vorzuwerfen.

Wer im Kreuzungsbereich zunächst aufgehalten worden ist und diesen dann als sog. „Nachzügler“ gegenüber dem Querverkehr räumen darf, kann nicht blindlings darauf vertrauen, dass er vorgelassen wird (vgl. OLG Düsseldorf, OLGR Düsseldorf 1993, 258). Vielmehr hat er den Kreuzungsbereich vorsichtig, unter sorgfältiger Beachtung des einsetzenden Gegen- und Querverkehrs mit Vorrang zu verlassen (vgl. BGH, NJW 1997. 1394). Dabei erhöhen sich die Anforderungen an die Aufmerksamkeit des Kreuzungsräumers mit seiner Verweildauer im Kreuzungsbereich:

„Je länger er sich nach seiner Einfahrt bei grünem Ampellicht im Kreuzungsbereich aufhält, desto eher muss er mit einem Phasenwechsel und anfahrendem Querverkehr rechnen“ (vgl. KG Berlin, ZfSch 2009, 77).

Mithin darf er nicht an- und weiterfahren, wenn er sich nicht vergewissert hat, dass eine Kollision mit einfahrenden Fahrzeugen ausgeschlossen ist (vgl. BGH, NJW 1971, 1407).

Daher war die Beklagte aufgrund der langen Verweildauer zu erhöhter Aufmerksamkeit verpflichtet. Hiergegen habe die Beklagte in erheblichem Ausmaß verstoßen, indem sie plötzlich zügig losfuhr, ohne auf das herannahende Klägerfahrzeug zu achten und es infolge dessen zur Kollision der Fahrzeuge kam.

Beklagte – kein Verstoß gegen §37 Abs. 2 Satz 7 StVO

Ein Rotlichtverstoß der Beklagten war vorliegend nicht feststellbar, da diese bei Grünlicht in die Kreuzung eingefahren ist.

Beklagte – kein Verstoß gegen §11 Abs. 1 StVO

Ein Verstoß gegen §11 Abs. 1 StVO ist gegeben, wenn der Kraftfahrer bei Grünlicht in die Kreuzung einfährt, obwohl er erkennt, dass er diese nicht rechtzeitig wieder verlassen kann. Nach der Beweisaufnahme stand fest, dass die Kreuzung zum Zeitpunkt des Einfahrens der Beklagten blockiert war, jedoch konnte nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden, dass dies für die Beklagte bei ihrer Einfahrt bereits erkennbar war.

Kläger – kein Verstoß gegen §§1 Abs. 2, 11 Abs. 3 StVO

Ein Verstoß wegen Nichtbeachtung des sog. Nachzüglervorrechts war zu verneinen. Verkehrsteilnehmer, für die durch grünes Licht der Verkehr freigegeben ist (§37 Abs. 2 Nr.1 Satz 1 StVO), brauchten zwar im allgemeinen nicht damit zu rechnen, dass Fahrzeuge von der Seite her unerlaubterweise in die Kreuzung einfahren (vgl. BGH, NJW 1977, 1394). Nach dem Vertrauensgrundsatz kann sich ein Verkehrsteilnehmer daher in der Regel darauf verlassen, dass er bei Grünlicht gegen seitlichen Verkehr abgeschirmt ist (vgl. BGH. NJW 1971, 742). Allerdings befreit das ihm zustehende Vorfahrtsrecht grundsätzlich nicht von der Verpflichtung, auf Nachzügler, also auf Teilnehmer des Querverkehrs, Rücksicht zu nehmen, die, als für sie noch grün galt, berechtigt in die Kreuzung eingefahren waren, sie aber nicht rechtzeitig verlassen konnten (vgl. BGH, NJW 1971, 1407). Diesen Nachzüglern ist, um Stauungen zu vermeiden, zunächst die Möglichkeit zu geben, die Kreuzung zu räumen (Nachzüglervorrang). Je weiter der Farbwechsel auf Grün aber zurückliegt, umso mehr darf der bei Grün An- und Durchfahrende auf eine freie Kreuzung ohne weitere Verkehrsteilnehmer aus dem Querverkehr der vorhergehenden Phasen vertrauen (vgl. OLG Köln, NZV 2012, 276).

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